Warum uns die Erfahrung von Top Coaches (leider) selten hilft

 

In einem der letzten Artikel der #getaegert Reihe ging es um Erfahrung. Eine andere Erscheinung, die neben der Athletenerfahrung oft herangezogen wird, ist die von sehr guten Trainern. Und es gibt eben wirklich gute Trainer, mit enormen Resultaten. Es gibt beispielsweise Boris Sheiko, dessen Methoden mehr Goldmedaillen im Powerlifting erzeugt haben als alles andere. Abadijevs Dominanz des bulgarischen Nationalteams im Gewichtheben ist ebenso bekannt wie die Dominanz von Charlie Francis, einem der legendärsten Leichtathletik Trainer des Planeten. Viele Trainer sind vor allem deshalb so beliebt, weil sie enorme Resultate mit der Elite des Planeten erzeugen. Goldmedaillen, 400kg Kniebeugen, Sub 10 100m Läufe. Boxställe wie der Universum Stall vereinen schnell alle Gürtel unter sich.

Und hier kommt die unangenehme Wahrheit: Trotzdem können wir vieles NICHT von diesen Personen oder Orten lernen. Wenn wir versuchen das zu tun, was sie tun, werden wir als Trainer bitterlich scheitern. Und dafür gibt es viele Gründe. Viele Trainer sagen “ich lerne indem ich von den besten lernen, Wissenschaft ist mir nicht so wichtig.” Und das funktioniert auch oft. In diesem Artikel geht es nicht darum, Legenden schlecht zu reden. Ich lerne genauso wie andere Trainer von diesen Menschen. Aber ich weiß auch, dass ich sie oft ignorieren muss und sich ihre Methoden oft vor allem für eine bestimmte Sportart und eine bestimmte Population entwickelt haben. Es geht in diesem Artikel um die Probleme, die ein Kopieren der Methoden von Elitetrainern haben wird und warum diese uns als Trainer so richtig in die Suppe spucken können.

Selection Bias

Der erste wichtige Punkt ist, dass wir bereits mit Sportlern arbeiten. In der generell westlichen Kultur gibt es eine Selektion von guten Sportlern dadurch, dass sie Lust haben und dann geeignet genug sind. Haben sie ausreichend Erfolge werden sie dann oft gefördert. Um bei einem Coach anzukommen, muss ein Sportler also bereits durch viele Kriterien gegangen sein. Derjenige muss sportlich und geeignet sein, um jahrelang gefördert zu werden. Dafür sind gewisse Erfolge nötig, damit der Sportler weiterkommt und irgendwann das Geld oder das Prestige hat, von einem Elite Coach trainiert zu werden. In den Ostblocksystemen ist es genauso, mit dem Unterschied, dass die Förderung der Sportler bereits viel früher beginnt und systematisierter ist. Im Fall der bulgarischen Gewichtheber beispielsweise haben wir Athleten die 5-10 Jahre trainiert haben und sich gegen hunderte andere Personen durchgesetzt haben, bis sie im Nationalteam waren. Das bulgarische System war somit ein System für die genetische Elite mit 10 Jahren konstanter Trainingserfahrung. In China ist Gewichtheben ein arme Leute Sport. Junge Kinder vom Land probieren es aus, weil erstmal wenig Prestige dahintersteckt. Die, die schnelle Resultate produzieren werden dann gefördert. China hat mehr als eine Million Gewichtheber in den letzten Jahrzehnten trainiert, davon sind 700.000 früh aussortiert worden als Athleten und die chinesischen Nationalteams sind aus den restlichen 300.000 Athleten ausgesucht worden. Ich habe selbst Zeit in China verbracht. Die Aussortierung von Athleten dort ist früh, permanent an jeder Stufe und erbarmungslos. Die Besten der Besten kommen in die Nationalteams. Die USA sind nicht anders: Vom High-School Sport aus wird gescoutet, die Besten kommen in den Division One College Sport und von dort kommen nur die Besten in die kommerziellen Teams. Die Athleten in der Division One werden bereits in der High-School vorsortiert.

Jedes Trainingssystem, jeder Trainingsrat, der von einem Trainer mit einem solchen Vorlauf an Selektion gegeben wird, MUSS im Kontext dieser Auswahl betrachtet werden. Wenn wir Trainingsstudien an einer Normalbevölkerung, auch der trainierten Normalbevölkerung ansehen, sind diese oft im Gegensatz zu dem, was Elitetrainer sagen. Und der Grund dafür ist der Selection Bias. Schlimmer ist aber, dass wir Trainingsprinzipien auf dem aufbauen, was dort passiert und damit begehen wir einen Survivorship Bias.

Survivorship Bias

Im zweiten Weltkrieg hatte das Verteidigungsministerium der USA ein Riesenproblem: Kosten. Die USA hatten den Widerstand Deutschlands und Japans massiv unterschätzt. Der Effekt war, dass sie vor enormen logistischen Problemen standen. In einem Apartment in New York City arbeitete das wahrscheinlich wichtigste Team des gesamten Krieges und rettete die Leben hunderttausender Menschen. Mit Mathematik auf dem Papier. Das Panel für angewandte Mathematik wurde mit Fragen beauftragt, die sich im Krieg stellten. Und eine dieser Fragen kam durch die hohe Verlustrate von Flugzeugen im Angriffskrieg. Dazu muss man sagen, es waren die 40er Jahre. Die Vereinigten Staaten haben erst in den frühen 90er durch ihre enormen Technologievorsprünge die projezierbare Lufthoheit wirklich gewonnen und demonstriert. In den 40er jedoch waren Luftangriffe ein kostspieliges Unterfangen. Von 10 gesendeten Bombern kamen im Schnitt nur 5 zurück. Mehr als 50% wurden abgeschossen. Die Kosten an menschlichen Verlusten und ebenso maschinellen Verlusten waren enorm. Ebenso der Effekt auf die Moral der Truppen und auch die der Gegner. Solange die japanische Armee mehr als 50% der Angreifer eliminieren konnte, waren die Auswirkungen der Angriffe auf die Moral nahezu egal. Man wollte das aber ändern und rief die das Panel für angewandte Mathematik. Adam Wald, ein eher ruhiger, freundlicher Zeitgenosse hörte sich die Ideen der Militärs an. Man hatte Berechnungen angestellt auf Basis der Flieger, die zurückkamen. Die Stellen an denen die Maschinen die meisten Treffer abbekommen hatten, sollten nun verstärkt werden, damit dies nicht mehr zutrifft. Die Admiralität wollte eigentlich nur das okay vom Panel, damit man die Berechnungen etwas genauer anstelle. Wald erklärte den Admirälen dann ruhig den Grund, warum wir nicht auf Elitetrainer hören dürfen. Die Berechnungen basierten auf den Überlebenden. D.h. alle Flugzeuge, die untersucht worden waren, waren NICHT abgeschossen worden. Eine Verkleidung der Trefferzonen dieser Flugzeuge wäre völlig idiotisch, da sie ja nicht abgeschossen wurden. Adam Wald blamierte aber nicht nur den gesamten Admiralstab der Navy, sondern er löste das Problem zugleich. Er stellte Berechnungen an, die den maximalen Schaden, den bestimmte Teile des Flugzeugs tolerieren können bestimmten. Auf dieser Basis wurden die Flugzeuge dann umgerüstet. Dies waren einige der intelligentesten Militärs und brillantesten Strategen ihrer Zeit. Und doch haben sie fast einen massiven logischen Fehler begangen. Und dieser Fehler ist überall: Wir fragen erfolgreiche Athleten, was ihr Geheimnis ist. Wir fragen Unternehmer, warum sie erfolgreich sind. Wir fragen erfolgreiche Restaurantbesitzer, warum sie so überlebt haben. Aber wir fragen nicht, warum die anderen versagt haben. Die kritischen Daten, nach denen fragen wir nicht. Wenn wir aber keine Vergleichsdaten zwischen Gewinnern und Verlierern haben, begehen wir einen Survivorship Fehler.

Kommen wir wieder zurück zu unseren Elitetrainern: Wenn wir nun also unseren Trainer in welchem Elitebereich auch immer betrachten, müssen wir zwangsläufig bedenken, dass sein Geheimnis das Training derer ist, die überlebt haben. D.h. nur wenige Trainer werden den Athleten vollständig dorthin bringen, wo er ist. Viele Elitetrainer arbeiten eben mit “Elitematerial” und können es formen, wie ein Meistertöpfer. Wie man Elitematerial eigentlich herstellt oder wie man mit Material umgeht, dass nicht zum Besten des Besten gehört, dass weiß unser Trainer seltener. Und je länger er Zeit mit den Besten verbringt, desto weniger wird er wissen, wie es mit normalen Menschen ist und wie man Leute an der Basis entwickelt. Wenn wir uns daran orientieren, werden wir nie verstehen, warum ein 5er Split eines Profibodybuilders erst nach 5-10 Jahren Sinn macht und besonders unter Konsum von PEDs. Wir haben das Problem, dass wir unsere Methode auf Eliteathleten aufbauen und nicht verstehen, warum viele keine Lust darauf haben, sie zu kompliziert finden oder aber nicht so vorankommen, wie wir das in der Praxis wollen. Denn im Endeffekt müssen wir Leute an der Basis entwickeln. Leute an der Basis entwickeln, ja das ist ein echtes Problem, denn dafür müssen wir etwas Anderes umgehen: den Availability Bias.

Availability Bias

Genau wie der Großteil der Trainer arbeite ich mit einer Vielzahl von Menschen aus allen Lebenslagen und allen Leistungsstände. Mit Athleten, die Medaillen holen. Aber auch mit Anfängern, die komplett neu dabei sind. Als lösungsorientierter Coach habe ich genauso mit CEOs multinationaler Unternehmen sowie mit Studenten gearbeitet. Mein Fokus darauf, meine Methoden wissenschaftlich abzusichern hat mir immer die Sicherheit gegeben, das Richtige zu tun und bei Problemen reagieren zu können. In der Praxis zeigt sich, ob man die Theorie auswendig gelernt oder aber verstanden hat.  So geht es auch vielen Elitetrainern. Die arbeiten aber wie schon erwähnt mit einer speziellen Population.

Und damit wird es lustig. Denn hier ist etwas, was ich unter Elitetrainern beobachtet habe. Genauso wie alle anderen auch neigen sie dazu, die Probleme die verfügbar sind, überzubewerten. Folgen wir ihnen, passiert uns das – sofern wir nicht vorsichtig sind –  ebenso. Trainer, deren Kundenstamm aus Baseballspieler besteht, beschreiben überproportional oft wie wichtig Rotatorentraining der Schulter ist. Dort, wo sich ihre Athleten meist verletzten. Weil gute Baseballspieler generell eine weichere Schulter und höhere Belastung auf der Schulter haben. Gewichthebertrainer und Kettlebelltrainer neigen dazu, Handpflege Tutorials und Handgelenk Rehab Artikel zu schreiben. Powerliftingtrainer schreiben oft über Cues und wie man mit Muskelrissen umgeht. Bodybuildingtrainer neigen dazu, besonders viel über Ernährung und die verschiedenen Nährstoffe zu schreiben oder aber darüber, wie man den Muskel am besten zerlegt. Und alle Sichtweisen sind Teil der Verfügbarkeitsheuristik ihrer eigenen Athleten. Deswegen sehen Physiotherapeuten in vielen Übungen auch oft Killerübungen: Da jemand meist Schmerzen hat, wenn derjenige zum Physiotherapeuten geht, wird jede Kniebeuge zum Kniekiller. Aber keine dieser Populationen muss repräsentativ sein. Es sind meist ganz besondere Gruppen von Menschen mit eigenen Problemen. Und oft sind auch die Lösungen für diese auftretenden Probleme und was diese Athleten brauchen, ganz individuell. Sie unterscheiden sich damit von dem, was ein Amateursportler, ein MMA Fighter oder ein Anfänger braucht. Auch die athletische Zielsetzung kann eine andere sein und deswegen ganz andere Denkweisen brauchen. Jeder dieser Elitetrainer hat sein eigenes Brett vorm Kopf und sieht daher seine Population. Darüber hinaus zu denken ist für sie auch absolut nicht nötig. Ihre Aufgabe ist es ja, die Problematik ihrer Schützlinge zu lösen. Und nicht, allgemeingültige Lösungen zu erstellen.

Was nun?

Wenn wir nur auf die Praxis der besten Trainer schauen, dann garantiere ich, dass wir selbst schlechte Trainer werden. Solange wir nicht die gleichen Athleten haben, werden wir nicht gut darin sein, mit ihnen umzugehen. Es ist absolut entscheidend, zielführend für die gegebene Situation und den Athleten zu denken. Ein Grund, warum in meinem Buch im Endeffekt so viele Templates für Trainingspläne sind, ist, dass wir für jede Situation genauer planen müssen. Und zwar am Stand des Athleten und anhand seiner Ziele. UND seiner Trainingsmotivation. Wir können die Trainingsmethoden der Profis nicht betrachten, ohne den Trainingsstand ihrer Athleten zu betrachten. Vor allen Dingen dann, wenn sie gegenüber dem konventionellen Wissen aus der Forschung das genaue Gegenteil sagen. Das bulgarische Trainingsmodell ist sicher gut, ebenso Boris Sheikos Modelle für das Powerlifting. Aber ohne 5-10 Jahre Vorlauf und Vorbereitung auf diese Programme UND die entsprechende Genetik wird ein Athlet an beiden Programmen zerbrechen. Einige Abweichler in meiner Trainingspraxis trainieren mit Programmen, die 99% der anderen Trainees in Stücke brechen würden. Mich eingeschlossen. Ich könnte nicht, was diese Menschen können. Daher ist die Aufgabe eines Trainers auch, das zu erkennen. Im Jetzt zu sein. Wissenschaftliche Prinzipien sind der erste Schritt, mit Athleten zu arbeiten. Zu erkennen, was diese in der Praxis bedeuten, das ist die Kunst. Von Top Trainern zu lernen, ist einer der letzten Schritte in der Entwicklung als Trainer. Der Grund dafür ist, dass wir erst die Fähigkeit aufbauen müssen, Trainingsplanung zu betreiben, in Echtzeit anzupassen, mit Athleten umzugehen und mit Erfolgen und Niederlagen umzugehen. Erst dann können wir erkennen, wann der Rat eines Profis für uns nützlich ist, egal ob Athlet oder Trainer. Und dann wird es auch interessant. Es ist gerade die Erfahrung mit besonderen Populationen, die bei den Topleuten so wertvoll ist. Beispielsweise der Umgang mit Verletzungen in professionellen Athleten ist anders als im Amateurbereich. Die Bezahlung, die Verpflichtung, die Absprache mit anderen involvierten Trainern. Das Ganze Drumherum. Verletzungsprävention ist ein Stichwort. Auch Cues, also Trainingsanweisungen und Tweaks zur Korrektur bestimmter Bewegungen sind Dinge, die wir uns von Toptrainern abschauen sollten. Es sind gerade die kleinen Dinge, die Denkweisen wie mit Situationen umgegangen wird, die viele Toptrainer zu dem machen, was sie sind. Und weniger ihre Trainingsmethoden oder das besondere Ernährungsprogramm. Sei dir bewusst, dass die Elite ihre Athleten ausgesucht und vorsortiert bekommt. Die Elite besteht aus den 2.5% Outliern, die in deiner Trainingspraxis nur selten vorkommen. Und dann trennt sich die Spreu vom Weizen nochmal daran, wie diszipliniert diese Athleten sind. Diese Auswahl trifft sich automatisch mit der Zeit, bevor die meisten Eliten überhaupt einen Athleten vor sich haben. Deswegen: Sei vorsichtig mit dem, was du von den Eliten in deinem Sport lernst: Vieles ist für dich und deine Athleten ein Schuss in den Fuß. Fokussier dich auf die Basics.

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